Führung in komplexen Zeiten.
Warum alte Muster an ihre Grenzen kommen und eine neue Haltung notwendig wird.
Komplexität als neuer Normalmodus
Komplexität ist längst kein Ausnahmezustand mehr, den man managen oder begrenzen könnte. Sie prägt das tägliche Arbeiten in Organisationen, unabhängig von Branche, Größe oder Struktur. Die Anforderungen verändern sich schneller als die Systeme, die sie tragen sollen, und Führung ist zunehmend mit Situationen konfrontiert, in denen lineares Denken und klassische Entscheidungslogiken an Wirkung verlieren. In solchen Momenten zeigt sich ein wiederkehrendes Muster: Menschen greifen zu dem, was vertraut ist. Sie suchen Halt in Hierarchien, in klar abgegrenzten Verantwortlichkeiten, in alten Rollenbildern und in der Vorstellung, dass Stabilität sich herstellen lässt, wenn man nur entschieden genug führt.
Die Kraft vertrauter Muster
Peter Drucker beschrieb dieses Phänomen als die Falle der Vergangenheit. Sein Gedanke war bemerkenswert einfach und gleichzeitig von großer Tragweite: In Momenten hoher Unsicherheit neigen Organisationen dazu, auf Muster und Werkzeuge zurückzugreifen, die aus einer völlig anderen Zeit stammen. Sie wollen neue Herausforderungen mit Strukturen lösen, die für Stabilität entwickelt wurden. In einer Welt, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich ständig verändert, ist dies ein Widerspruch, der den Blick auf das Wesentliche verstellt.
Die Rückkehr zu hierarchischen Reflexen ist jedoch kein Fehler und kein Hinweis auf mangelnde Kompetenz. Es ist ein menschliches Reaktionsmuster. Kontrolle vermittelt Sicherheit. Eindeutigkeit erzeugt kurze Momente der Ruhe. Anweisungen ersetzen die Auseinandersetzung mit Ambivalenz. Viele Führungskräfte berichten, dass sie sich von der Dynamik ihrer Organisationen getrieben fühlen und dass der Druck, Orientierung zu geben, größer wird, je weniger Orientierung eigentlich möglich ist. In solchen Situationen ist es verständlich, dass der Wunsch nach Klarheit entsteht, selbst wenn diese Klarheit nicht der Realität entspricht.
Organisationen als bewegte Systeme
Komplexe Umfelder folgen jedoch nicht der Logik von Klarheit oder Steuerbarkeit. Sie entstehen im Zusammenspiel von Menschen, Beziehungen, Erwartungen und Strukturen. Sie entwickeln sich durch Interaktionen und durch Muster, die oft erst sichtbar werden, wenn man die Perspektive weitet. Das Verhalten einer Führungskraft ist dann nur ein Element eines größeren Gefüges. Entscheidungen entfalten ihre Wirkung nicht isoliert, sondern im Kontext. Ein Team reagiert nicht nur auf Inhalte, sondern auf Haltung. Und Organisationen entwickeln nicht nur Prozesse, sondern energetische Felder, in denen Kooperation, Widerstand oder Engagement entstehen.
Genau hier wird deutlich, warum traditionelle Antworten an ihre Grenzen stoßen. Komplexität lässt sich nicht ordnen, indem man sie reduziert. Sie wird nicht beherrschbarer, wenn man sie ignoriert. Sie reagiert nur selten auf die Idee, dass eine Führungskraft mit ausreichend Autorität sie überwinden könnte. Führung wird in solchen Systemen zu einer Aufgabe, die weniger mit Anweisungen und mehr mit Beobachtung zu tun hat, weniger mit Kontrolle und mehr mit Resonanz, weniger mit Durchsetzung und mehr mit dem Lesen von Mustern.
Ansätze moderner Führung
Moderne Operating Models greifen diese Realität auf. Sie beruhen auf dem Verständnis, dass Wissen verteilt ist, dass Expertise an vielen Stellen im System liegt und dass Entscheidungen dort getroffen werden müssen, wo die Nähe zur tatsächlichen Situation am größten ist. Sie favorisieren Verantwortungsteilung statt Entscheidungsmonopole und setzen auf Kooperation als zentrale Arbeitsform. Doch diese Prinzipien werden häufig falsch verstanden. Kooperation wird mit Zustimmung verwechselt, Verantwortungsteilung mit Delegation und Entwicklungsorientierung mit Weiterbildung. Tatsächlich geht es um etwas anderes. Es geht um die Fähigkeit, als Führungskraft Räume zu öffnen, in denen Menschen gemeinsam denken, handeln und Verantwortung tragen können.
Dies erfordert eine Haltung, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Wahrnehmung basiert. Eine Haltung, die erkennt, dass Orientierung nicht entsteht, indem man Unsicherheit vermeidet, sondern indem man gemeinsam lernt, mit ihr zu arbeiten. Eine Haltung, die nicht darauf abzielt, Komplexität zu reduzieren, sondern darauf, den Umgang mit ihr zu erweitern. Führung wird so zu einer Praxis, die immer wieder neu entsteht und die sich im Moment bewähren muss.
Komplexität als Entwicklungsraum
In meiner Arbeit mit Führungsteams zeigt sich immer wieder, wie stark die Wirkung dieser Haltung sein kann. Teams, die sich der Dynamik bewusst werden, in der sie handeln, entwickeln eine neue Form der Präsenz. Sie beginnen, Muster zu erkennen, statt sich von ihnen treiben zu lassen. Sie hören anders zu, weil sie weniger auf Bestätigung und stärker auf Bedeutung achten. Sie handeln differenzierter, weil sie nicht nach schnellen Lösungen suchen, sondern nach einer gemeinsamen Deutung der Situation. In solchen Räumen entsteht eine Form von Orientierung, die nicht auf Eindeutigkeit beruht, sondern auf geteilter Verantwortung.
Komplexität stellt Anforderungen, die nicht durch einzelne Entscheidungen bewältigt werden können, sondern durch die Fähigkeit, Bezüge herzustellen und Zusammenhänge zu erkennen. Sie verlangt von Führungskräften, sich in einem Spannungsfeld zu bewegen, in dem Erfahrung hilfreich, aber nicht ausreichend ist, und in dem Wissen wertvoll ist, aber ohne Kontext an Wirkung verliert. Diese Fähigkeit entwickelt sich nicht durch Anleitungen und nicht durch Methoden. Sie entwickelt sich durch Bewusstsein.
Am Ende bleibt eine einfache, aber weitreichende Feststellung: Komplexität ist kein Feind der Führung, sie ist die Bühne, auf der Führung ihre eigentliche Reife zeigt. Sie fordert nicht mehr Stärke, sondern mehr Entwicklung. Nicht mehr Kontrolle, sondern mehr Verstehen. Nicht mehr Vereinfachung, sondern mehr Präsenz. Und genau darin liegt die Chance. Denn wenn Führung sich in dieser Weise weiterentwickelt, entsteht eine Qualität, die Organisationen wirklich verändert.
Führung in komplexen Zeiten bedeutet daher nicht, den richtigen Plan zu haben. Führung in komplexen Zeiten bedeutet, die Fähigkeit zu entwickeln, mit dem zu arbeiten, was sich zeigt. Es ist eine Praxis des bewussten Umgangs mit Dynamik. Eine Praxis, die nicht auf schnelle Antworten setzt, sondern auf das gemeinsame Tragen der Situation. Eine Praxis, die weniger fragt, wie Komplexität verschwindet, und mehr, wie Menschen in ihr handlungsfähig bleiben.
Wer diesen Weg geht, stellt sich nicht gegen Komplexität. Führung entsteht im bewussten Umgang mit ihr.














